Fake Faces
Agenturen, die für den privaten Gebrauch kostenloses Bildmaterial anbieten, gibt es zuhauf. Nun aber stellt ein US-amerikanisches Unternehmen aus New York mehr als 100.000 Porträts kostenfrei zur Verfügung – und das, obwohl die Models nicht einmal ihr schriftliches Einverständnis erklärt haben. Dennoch werden hier weder Persönlichkeitsrechte verletzt noch können die abgebildeten Menschen klagen.
Die Pointe: Diese Gesichter gibt es nicht. Kein Blick, der uns da von der Website generated.photos entgegengeworfen wird, ist echt. Die Stockfotos sind allesamt künstlich generiert. Künstlich – und künstlerisch. Denn hinter dem Projekt steht eine Gruppe von 20 Künstlern, die in enger Zusammenarbeit mit Experten im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) aus 69 echten Menschen mithilfe von 30.000 Bildern mehr als 100.000 Fake Faces entwickelt haben.
Wer sich also immer schon mal eine falsche Identität zulegen wollte, die Pinnwand mit Fake Friends tapezieren möchte oder bei der Anmeldung auf einem Dating-Portal ganz zufälligerweise kein eigenes Foto zur Hand hat: Auf Generated Photos kann sich jede und jeder bedienen – solange die Nutzung des Bildmaterials nicht kommerziell ist.
Doch Vorsicht: Viele der angebotenen Porträts sehen zwar täuschend echt aus, mindestens ebenso viele aber haben die Anmutung, als hätte da jemand mit keinerlei Photoshop-Kenntnissen in den Bildern herumfuhrwerkt. Da kann auch schon mal ein Ohr fehlen, der Hintergrund ist schlecht retuschiert oder – anscheinend besonders beliebt bei der intelligenten Technik von Generated Photos – das Model schielt, was das Zeug hält.
Wie bei Stockagenturen üblich, sollen die Porträts künftig nach Kriterien wie Ethnie, Geschlecht, Alter und Stimmung durchsucht werden können. Zum Redaktionsschluss unseres Magazins war es lediglich möglich, die Bilder ohne Suchkriterien mithilfe von Google Drive zu sichten und direkt herunterzuladen. Die Bildgröße hält sich bei etwa 500 kb auch in Grenzen.
Dennoch: Das Thema Künstliche Intelligenz bei Bildern entwickelt sich mit rasanter Geschwindigkeit. Das maschinelle Lernen wird mehr und mehr dafür genutzt, täuschend echte Realitäten zu generieren, die für mehr Variabilität auf dem Markt sorgen sollen.
Dass sich Kunst und KI dabei immer öfter die Hand reichen, zeigt auch ein aktuelles Projekt des US-amerikanischen Fotografen und Aktivisten Trevor Paglen. Der preisgekrönte Gegenwartskünstler hat jüngst das Wort Intelligenz in der Begrifflichkeit der Künstlichen Intelligenz ironisch hinterfragt, indem er uns unsere eigenen Bilder hochladen und bewerten ließ. „Image Roulette" hieß die Website, auf der kürzlich Tausende User ihr Porträt hochluden, um sich von Algorithmen bewerten zu lassen. Mittlerweile ist der Link nicht mehr funktionstüchtig, führt aber zu einer detaillierten Beschreibung des Projekts, das Paglen gemeinsam mit dem renommierten KI-Foschungsinstitut AI Now Institut und der Wissenschaftlerin Kate Crawford aufgezogen hat. Es ist Teil der Kunstausstellung „Training Humans", die noch bis Februar in der Galerie Osservatorio Fondazione Prada in Mailand zu sehen ist.
Crawford und Paglen wollen mit ihrem Projekt aufzeigen, wie wir uns bei unserem Digitalverhalten vermehrt von Algorithmen bewerten lassen. In diesem Zuge haben sie die große Bilddatenbank ImageNet analysiert, die in der Wissenschaft genutzt wird, um KI-Systeme zu trainieren. Das Duo wollte die Prozesse im Bereich Fotografie und KI verstehen und offenlegen, wie Bilder von Menschen mithilfe von Algorithmen klassifiziert und bewertet werden. Sie verdeutlichen, dass dabei nicht nur die Gesichtsausdrücke – es gibt dabei erschreckenderweise nicht mehr als sechs – hinzugezogen werden, um Rückschlüsse auf die emotionale Verfassung der abgebildeten Person zu ziehen. Auch die Umgebung oder Gegenstände, die auf den Fotos zu erkennen sind, spielen in der künstlichen Bildbewertung eine Rolle. Ein Foto von einem jungen Mann, der gerade ein Bier trinkt, wird da von Computerhand mit den Begriffen „Alkoholiker, Alkoholsüchtiger, Säufer" verschlagwortet. Ein Kind mit einer Sonnenbrille bekommt die Tags „Versager, Verlierer, erfolgloser Mensch" zugeschrieben. Und Fotos von Frauen erhalten oft die Attribute „sexy" oder „Mutter".
Damit haben Paglen und Crawford ein herausragendes Projekt von aktueller Brisanz geschaffen, mit dem sie die moralische und politische Ebene der „intelligenten" Verschlagwortung dechiffrieren. Und die Moral von der Geschicht'? Hinter jeder Technik steht am Anfang eben doch nur ein Mensch.
Nachtrag 21.10.2019
Paul Melcher hat hier ein Interview mit dem Entwickler Ivan Braun veröffentlicht. Spannend.
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