Bilder in Coronazeiten
Leere Straßen, Bücherregale im HomeOffice, Bilder von Intensivstationen und Särgen: Vor ziemlich genau einem Jahr berichtete der ARD-Kulturpodcast „Lakonisch elegant“ über die Bildsprache der Coronakrise. Das war Anfang April 2020, die Krise war gerade einen Monat jung. Seither ist viel nicht
passiert – so einiges aber schon. Dass
wir die Welt nicht nur anders wahrnehmen, sondern auch anders bebildern als noch vor zwölf Monaten, ist offensichtlich. Wie
aber hat sich die Bildsprache verändert? Von der Videokonferenz zur elektronenmikroskopischen Aufnahme des Virus: Welche Fotos sind in Zeiten der Pandemie besonders gefragt? Und wie bildet man eine Welt ab, die aus den Fugen gerät?
Der Rückzug ins Private
Da Fotoshootings insbesondere im ersten Lockdown abgesagt werden mussten, ist die Nutzung von Stockbildern stark angestiegen. Dabei wurde – oh Wunder – vermehrt nach Schlagworten wie „Mensch am Bildschirm“, „virtuell“ oder „HomeOffice“ gesucht anstatt nach Personenbildern im persönlichen Umfeld oder im Büro. Der Schulterblick auf die Videokonferenz ersetzte das Foto von der Runde am Konferenztisch, angefragt wurden Bilder von Menschen, die zu Hause vor der Lieblingstapete Bücherregal arbeiten. Das sogenannte ‚New Normal‘ aber hat durchaus auch zu einem kreativeren Umgang in der Bebilderung von Werbung, Magazinen oder Unternehmenswebsites geführt. So haben die Kolleginnen und Kollegen von Westend61 in ihren Inspire Trends 2021 festgestellt, dass neben Themen wie „Rückzug ins Private“, „New Work im HomeOffice“ oder „Virtualität“ auch die Flucht nach vorn, die Wege aus dem Krisenmodus und Themen wie „Innovation durch Improvisation“ einen hohen Stellenwert eingenommen haben. „Die Sehnsucht nach Sicherheit spiegelt sich in einer emotionalisierten und einfühlsamen Bildsprache wider, die mit warmen, gedeckten Farben und stimmungsvollem, sonnigem Licht ein Gefühl von Wärme und Nähe weckt“, schreibt Kreativdirektorin Martine Präßl zum Trendthema „Sehnsucht nach Sicherheit“.
Eine Folge der Krise auch in der Bildsprache sei eine Rückbesinnung auf das, was im Leben zählt. Dabei muss es nicht das tausendste Bild der Familie auf dem Sofa oder im HomeOffice sein: Sei es der Kuss durch die Fensterscheibe, das Paar im frisch angelegten Gemüsegarten oder zwei spielende Kinder mit Roboterkisten auf dem Kopf statt Mundschutz im Gesicht – sowohl Fotografen als auch Agenturen und Unternehmen haben immer wieder ein feines Gespür für die Stimmungen der gegenwärtigen Situation bewiesen, ohne dabei auf pfiffige Ideen zu verzichten. Auch in Gettys Creative Insights wird deutlich, dass das neue Normal schon nach kurzer Zeit auch Eingang in die (Bewegt-)Bildsprache der Werbung gefunden hat: Dove zeigte Do-it-yourself-Haarschnitte, Malteser brachte Spots heraus, die das Leben in Isolation in Video-Chat-Anmutung zeigen und auch Ikea fand einen emotionale Umgang mit dem Thema Isolation und Rückbesinnung auf die Familie inklusiver diverser LGBTQ+-Konstellationen.
Auch wir bei den Bildbeschaffern …
... werden nicht mehr nach klassischen Konferenz-Situationen gefragt. Das Einrichten des HomeOffice, das 'New Normal' waren aber gefragter als maskentragende Menschen. Vielleicht, weil die Maske ein nicht so positiv besetzter Hype ist wie zum Beispiel die E-Scooter vor zwei Jahren. Was schon vor Jahrzehnten als Trend gesehen wurde, hat sich auch in der Bildsprache durchgesetzt: Das Cocooning.
Wie bebildert der Fotojournalismus?
Selbst im Fotojournalismus dauerte es zunächst eine Weile, bis Krankenhäuser von innen, Intensivstationen oder Särge Eingang in die Medien fanden. Gab es zu Beginn der Krise nur wenige Bilder von Kranken, Patienten, Toten und Sterbenden – dafür umso mehr von Mundschutze auf Straßen und am Wegesrand sowie vom puscheligen Virus in vergrößerter Monster-Ansicht –, hat sich die anfängliche Zurückhaltung längst gelegt und wir haben diverse Fotoreportagen zu Gesicht bekommen, die uns mitnehmen auf Intensivstationen und zu Menschen an Beatmungsmaschinen.
Eine der herausragenden Arbeiten kommt von Jonas Wresch, der für die ZEIT in leisen Bildern von der Vorweihnachtszeit in einem Hamburger Krankenhaus berichtet hat. Seine Aufnahmen sind glaubwürdig und nahbar, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Es ist die leise Bildsprache, die uns das Leiden näherbringt. Die Frage, ob solch dramatische Momente auch plakativ und dramatisch fotografiert werden müssen, wird in diesem frischen Artikel von medienrot.ch gestellt.
Mit Schutzbrille, Maske, Kittel und einer Kamera im Gefrierbeutel hat sich auch Patrick Juncker zu den Menschen begeben, die dem Virus ganz nahekommen, um es zu besiegen. Für seine Serie „There is glory in prevention“ reiste der Absolvent der FH Hannover mit einem Test-Mobil zu Patienten, begleitete die Vorbereitungen einer Corona-Andacht und besuchte Sterbende wie Überlebende auf einer COVID-19-Station.
Auf die Menschen, die ihr Leben draußen weiterleben, konzentriert sich dagegen der bekannte Fotograf Daniel Biskup. Sein Corona-Tagebuch zeigt skurrile Szenen eines neuen Alltags, der uns vor gut einem Jahr noch nicht möglich erschienen wäre und kann beispielhaft genannt werden für viele weitere kreative Projekte, denen sich Fotografen in diesen Zeiten widmen.
Blanke Zahlen: Was sagt Adobe?
Werfen wir zuletzt noch einen Blick auf interessante Zahlen, die Adobe in der Studie State of Creativity veröffentlicht hat. Befragt wurden weltweit 600 Kreative:
- 82 Prozent bestätigten die These, dass das Jahr 2020 das kreative Schaffen nachhaltig verändert hat,
- 76 Prozent gaben zu, dass es schwieriger geworden sei, mit den sich schnell entwickelnden Trends in der visuellen Kultur umzugehen,
- und 91 Prozent sagten, dass die Ereignisse im Jahr 2020 sie dazu inspiriert haben, Probleme aus der realen Welt in ihre Kreativarbeit einzubeziehen.
Trotz der Ungewissheit in der Kreativbranche ergab die Studie zudem, dass viele Kreative die schwierigen Monate auch als Chance ansehen, sich weiterzubilden. So gaben 86 Prozent an, dass sie an Schulungen und Online-Fortbildungen teilgenommen haben. Auch wir haben in der pandemischen Zeit von Präsenz-Schulungen auf Webinare umgestellt und in den monatlichen "offenen Webinaren" über 150 Plätze vergeben. Sei es zum Thema Metadaten und Lizenzen, Fotografenverträge oder zu Bildrechten in Social Media: Wir geben unser Wissen gern weiter.
Eines können wir branchenübergreifend feststellen: Die Krankheitsikonografie hat sich verändert. Die bunt eingefärbten elektronenmikroskopischen Aufnahmen des Virus sind selten geworden – wir alle wissen nun, wie das kleine Ungeheuer in Überlebensgröße aussieht. Auch die Aufnahme eines auf dem Boden liegenden Mundschutzes sorgt allenfalls noch für ein Gähnen. Neben Aufnahmen von Spritzen und Impfungen sind es vor allem die emotionalen Bilder, die sich mehr und mehr durchgesetzt haben – sei es im Fotojournalismus als leise visuelle Begleitungen bis ans Sterbebett oder als einfühlsamer Werbeclip mit Mut hin zum Zeigen von Einsamkeit und Ängsten.
Mit den ansteigenden Temperaturen aber werden derzeit auch die Farben der Krisenbebilderung bunter und frühlingsfroher. Wir sind gespannt, welche visuellen Trends zur Pandemie uns im Laufe des Jahres noch erwarten …
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